Hin und wieder findet man auch in den Mainstream-Medien Berichte, die sich zumindest teilweise von der gängigen Propaganda abheben. Das trifft zum Beispiel auf eine Reportage des ZDF-«auslandsjournal» von letztem Sonntag zu: «Propaganda in Nahost: Die Verdrehung der Wirklichkeit», so der Titel. Der Sender beleuchtet darin die Berichterstattung auf beiden Seiten des Konflikts, aus Israel und aus Gaza.
Zu Beginn geht es darum, dass die israelischen Nachrichten selektiv über den Konflikt im Gazastreifen berichten. Israelische Medien würden sich auf die Aktionen der israelischen Soldaten konzentrieren, während sie das Leiden der Palästinenser ignorieren. Dazu äussert sich der Journalist der israelischen Zeitung Haaretz, Gideon Levy, der laut dem ZDF «einer der erfahrensten Reporter in Israel» ist, wie folgt:
«Israelisches Fernsehen und Zeitungen berichten 24 Stunden, sieben Tage die Woche ausschliesslich über den Krieg. Man sieht nichts von Gaza. Es geht nur um die tapferen Soldaten, die getöteten Soldaten, die Geiseln, die Familien der Geiseln und so weiter. Nichts über Gaza. Im Schnitt wissen die Deutschen in einem kleinen Dorf in Bayern viel mehr über Gaza als wir Israelis, die nur eine Stunde von Gaza entfernt leben und die verantwortlich sind für das, was in Gaza passiert. Und wir sehen nichts.»
Einmal die Woche fahre Levy ins Westjordanland, «um hier nach dem Unrechten zu sehen», wie es in der ZDF-Doku heisst. Und davon gebe es viel. Das Team begleitet ihn. Diesmal geht es um einen Konflikt um 700 Schafe von Palästinensern, die unerlaubterweise auf das Gebiet einer jüdischen Siedlung geraten sind. Die israelische Polizei habe die Tiere festgesetzt und verlange nun im Auftrag der Siedlerverwaltung umgerechnet fast 40’000 Euro «von den mittellosen palästinensischen Schäfern», sonst würden die Tiere beschlagnahmt. Levy ordnet ein:
«Wir kennen alle die Wahrheit. Es geht nur um eine andere Art und Weise, die Schäfer zu tyrannisieren, damit sie das Land verlassen. Im Schatten des Krieges in Gaza unternehmen die israelischen Siedler enorme Anstrengungen, um die Realität zu verändern solange niemand zuschaut.»
Schliesslich zahlten jüdische Menschenrechtsaktivisten die verlangte Summe, um die Schafe auszulösen. Das ZDF kommentiert:
«Aber selbst von dieser menschlichen Geste zwischen Feinden erfuhren nur ein paar Leser eines einzelnen Journalisten.»
Dieser Journalist stellt fest:
«Es gibt ein Thema, das die israelischen Medien seit Jahren nicht behandeln, und das auch noch freiwillig. Und das ist die israelische Besatzung.»
Levy zufolge ist diese Berichterstattung Ausdruck eines geringen Interesses der israelischen Öffentlichkeit am Leid der Palästinenser und einer mangelnden journalistischen Integrität. Er sieht darin ein kommerzielles Kalkül. Journalisten wie er, die mit ihren Berichten dagegenhalten, würden als «verrückte oder als Verräter gebranntmarkt», fügt er hinzu.
Auch die Medienberichterstattung im Gazastreifen ist dem ZDF zufolge unausgewogen. Eine freie Presse gebe es in der Enklave nicht, und Al Jazeera berichte «einseitig bis unverholen als Propagandist der Hamas». Der palästinensische Meinungsforscher Khalil Shikaki stellt fest, dass die grosse Mehrheit der Palästinenser die Videos der Hamas-Gräueltaten am 7. Oktober nicht gesehen haben. Im Interview relativieren oder bestreiten einige Palästinenser denn auch diese Taten. Gemäss dem ZDF ist das «ein weitverbreitetes Urteil, obwohl die Beweise erdrückend sind».
Hier kommt der Sender leider nicht aus seiner eigenen Propagandablase heraus. Denn tatsächlich hat sich so manche Behauptung, wie zum Beispiel die, dass die Kämpfer Babys enthauptet hätten, als israelische Propaganda erwiesen.
Das ZDF hätte auch erwähnen müssen, dass ein grosser Teil der beim Hamas-Angriff umgekommenen Israelis keine Zivilisten, sondern Sicherheitskräfte waren. Ebenso, dass zahlreiche israelische Todesopfer auf das Konto der israelischen Streitkräfte (IDF) gehen, die laut Zeugen «auf alles» geschossen haben (wir berichteten hier und hier).
Was die fehlende freie Presse betrifft, hätte der mit Zwangsgebühren finanzierte Sender zudem erwähnen müssen, dass Israel keine ausländischen Journalisten in den Gazastreifen lässt. Das führt dazu, dass praktisch nur Al Jazeera mit palästinensischen Medienschaffenden von dort berichtet.
Laut Michael Millstein, ehemaliger Offizier des israelischen Militärgeheimdienstes und Experte für palästinensische Angelegenheiten an der Universität Tel Aviv, reflektiert das Ignorieren der Gräueltaten «ein viel tieferes Problem in der arabischen und in der muslimischen Welt»:
«Man kann die eigenen negativen Seiten nicht im Spiegel betrachten. Sie glauben, dass sie ein Engel sind. Sie können keine Kriegsverbrechen begehen. Deshalb gibt es nur zwei Verhaltensmuster: Wir sind entweder die Guten oder wir sind die Opfer. Dazwischen gibt es nichts, und das ist das Problem.»
Dem müsste man hinzufügen, dass dies keineswegs ein spezifisch arabisches und muslimisches Verhaltensmuster ist, sondern beispielsweise auch auf Israel und die USA zutrifft.
Der freie Journalist Ben Lynfield erklärt gegenüber dem ZDF:
«Die Medien auf beiden Seiten spielen eine negative Rolle. Anstatt die Menschlichkeit der anderen Seite zu betrachten, entmenschlichen sie die andere Seite.»
Die grösste Verantwortung liegt nach Auffassung von Gideon Levy bei Israel:
«Die israelischen Medien habe den Ruf einer freien und demokratischen Presse, was bei den palästinensischen nicht der Fall ist. Sie sind nicht so frei wie unsere Medien. Deshalb ist unsere Verantwortung so viel grösser. (…) Es ist nicht so, dass wir eine Zensur hätten. Es ist nicht so, dass die Regierung, die Geheimdienste oder die Armee uns Befehlen würden: Zeigen sie das nicht. Es ist viel schlimmer als das, weil es freiwillig ist, weil alles nur darum geht, nur ja nicht die sensiblen Seelen unserer Zuschauer und Leser zu belästigen.»
Das ist allerdings nicht ganz korrekt. Wie The Intercept im Dezember berichtete, hat die israelische Militärzensur bestimmte Themen für Nachrichtenorganisationen für tabu erklärt und zensiert Beiträge, die als «ungeeignet» oder «unsicher» angesehen werden. Acht Themen wurden eingeschränkt, darunter Sitzungen des Sicherheitskabinetts, Informationen über Geiseln und Berichte über Waffen, die von Kämpfern im Gazastreifen erbeutet wurden (wir berichteten).
Das ZDF resümiert:
«Die arabische Welt von freier Berichterstattung weit entfernt, Israels Medien mit blinden Flecken.»
Auch das ist dann doch eine eher tendenziöse Äusserung. Denn auch die ZDF-Doku vermittelt letztlich den Eindruck, dass die Berichterstattung auf beiden Seiten etwa gleichermassen unausgewogen ist.